Als er das Blatt eingehend betrachtete, sah er ganz deutlich die Gegenwart der Sonne und der Sterne darin — ohne die Sonne, ohne Licht und Wärme könnte das Blatt nicht existieren. Dies ist, wie es ist, weil jenes ist, wie es ist. Auch sah er in dem Blatt die Gegenwart der Wolken — ohne Wolken gäbe es keinen Regen, und ohne Regen könnte das Blatt nicht sein. Er sah die Erde, die Zeit, den Raum, den Geist — alles war in diesem Blatt gegenwärtig. Tatsächlich existierte in diesem Moment das ganze Universum in diesem Blatt. Die Wirklichkeit des Blattes war ein außerordentliches Wunder.

Normalerweise denken wir, daß ein Blatt im Frühling geboren wird, doch Gautama sah, daß es schon seit langer, langer Zeit da war — in dem Sonnenlicht, den Wolken, dem Baum und in ihm selbst. Da er sah, daß das Blatt niemals geboren worden war, konnte er auch erkennen, daß auch er niemals geboren worden war. Das Blatt — wie er selbst — hatte sich nur manifestiert — es war niemals geboren worden noch würde es jemals sterben. Durch diese Einsicht lösten sich seine Vorstellungen von Geburt und Tod, Erscheinen und Vergehen auf, und das wahre Gesicht des Blattes — und sein eigenes wahres Gesicht — enthüllten sich. Und er erkannte, daß die Gegenwart jeder einzelnen Erscheinung das Dasein aller anderen Erscheinungen möglich machte. Ein Phänomen umfaßte alle, und alle waren in einem enthalten.

Das Blatt und sein Körper waren eins. Keines von beiden besaß ein eigenständiges, unvergängliches Selbst. Beide konnten sie nicht unabhängig vom Rest des Universums existieren. Indem er die wechselseitige Abhängigkeit aller Dinge als ihre Natur erkannte, sah Siddhartha auch die Leerheit aller Erscheinungen als die Natur der Dinge — alles ist leer von einem eigenständigen, vereinzelten Selbst. Er verstand, daß der Schlüssel zur Befreiung in diesen beiden Prinzipien lag — der wechselseitigen Abhängigkeit und dem Nicht-Selbst aller Dinge. Wolken trieben am Himmel ... Auch Wolken waren nie geboren worden, und sie würden auch nicht sterben. Verstanden die Wolken das, so würden sie, dachte Gautama, sicher freudig singen, wenn sie als Regen auf die Berge, Wälder und Reisfelder herniederprasselten.

Siddhartha, der den Strom des Körpers, den der Empfindungen, Wahrnehmungen, der Geistesregungen und des Bewußtseins beleuchtete, verstand nun, daß Unbeständigkeit und Leerheit genau die Bedingungen sind, die das Leben möglich machen. Ohne Unbeständigkeit und Leerheit könnte nichts wachsen und sich entfalten. Ein Reiskorn, das nicht von seiner Natur her unbeständig und leer von Selbst wäre, könnte niemals zu einer Reispflanze heranwachsen. Wären Wolken nicht leer von Selbst, wären sie nicht unbeständig, so könnten sie sich nicht in Regen verwandeln. Ohne eine unbeständige, selbst-lose Natur könnte ein Kind niemals zum Erwachsenen heranreifen.

Daher, so dachte er, bedeutet das Leben annehmen auch Unbeständigkeit und Leerheit von Selbst annehmen. Der Ursprung des Leidens ist der falsche Glaube an Beständigkeit und an die Existenz eines eigenständigen, abgetrennten Selbst. Dies zu sehen, bedeutet zu verstehen, daß es weder Geburt noch Tod gibt, weder Entstehen noch Vergehen, weder eins noch viele, weder innen noch außen, weder groß noch klein, weder unrein noch rein. All diese Vorstellungen sind falsche Unterscheidungen, durch den Intellekt geschaffen. Taucht man in die Leerheit aller Dinge ein, wird man alle geistigen Schranken transzendieren und befreit sein vom Kreislauf des Leidens.

Thich Nhat Hanh (2010): Wie Siddhartha zum Buddha wurde. S. 111—113.